Im Februar 2022 gründete ich gemeinsam mit meinen Freunden Hans Groh und Christoph Conrads (sowie eine Person, die nicht genannt werden möchte) die Initiative „Fluchthilfe 360“. Übergeordnete Ziele waren die Lieferung von medizinischen Spezialmaterial für 20-40 traumachirurgisch zu versorgende Soldaten aus den Kriegsgebieten an ein Krankenhaus in Kiew sowie die Aufnahme, der Transport, die Verbringung von Flüchtlingen. 360 meint damit 360°, d.h. Flüchtlinge werden von der ersten Kontaktaufnahme bis zur Integration in der Gesellschaft rundum unterstützt. Sozusagen „Integration Fast-Track“ (schneller Weg). In meinen Blogbeiträgen habe ich über die verschiedenen Maßnahmen und Phasen berichtet.
Nach langer und sorgfältiger Planung ist unser Team am 11. April aufgebrochen, um unsere Mission zu erfüllen. Wir lieferten das medizinische Spezialmaterial mit Unterstützung des deutschen Konsulates an das „Krankenhaus #1“ nach Kiew, nahmen zwei Flüchtlinge in Medyka auf und ab dem 13. April nannten L. und N. mein Haus ihr vorläufig neues Zuhause. Da die nächsten Schritte bereits vor Antritt der Fahrt eingeleitet wurden, konnten die ersten formalen Maßnahmen (Anmeldung, Krankenversicherung,…) direkt umgesetzt werden. Es war schön zu sehen, dass wir unheimlich viel Unterstützung erhalten haben.
Zum 01. Juli 2022 bezog L. und N. die neue Wohnung, die großzügigerweise von Pia und Uwe zur Verfügung gestellt wurde. Es handelt sich dabei um einen möblierten Wohnraum, der noch um eine Küche und ein paar kleinere Möbelstücke ergänzt werden musste. Für dieses Angebot danke ich hiermit auch ausdrücklich.
Das Team wurde größer und ich nehme diesen Text zum Anlass, mich bei Marie und Wolfgang Zydek zu bedanken, die sehr viel Verantwortung für wichtige Maßnahmen und Aktionen übernommen haben. Dazu gehörten die Suche, den Ab- und Aufbau einer Küche, den Besuch von Karrieremessen für N., aber auch weitere finanzielle Unterstützung.
Die nun folgenden Zeilen beschreiben das Zusammenleben der Gastfamilie und mir, unter einem Dach.
Sprache
L. und N. wohnten gemeinsam mit mir in meinem Haus in Eich. Die sprachliche Verständigung basierte zunächst auf Unterhaltungen auf Englisch sowie der Übersetzungsfunktion von Google. Zu meiner Überraschung habe ich erst in den letzten vier Wochen erfahren, dass meine Gäste vorwiegend russisch sprechen, obwohl ich immer in Ukraine übersetzte. Egal, es hat funktioniert. Während der ersten Wochen habe ich mit gutem Erfolg versucht, Alltagsbegriffe zu erklären und sie in das gemeinsame Zusammenleben einzubetten. Nachdem die Sprachenschule startete, haben diese „Lektionen“ meinerseits nachgelassen. Da ich nun wieder arbeiten musste, blieb oft wenig Zeit für umständliche Übersetzungsversuche bezogen auf simple Erklärungen. Bei L. hatte ich das Gefühl, dass trotz fleißiger Sprachenschule kaum Versuche existierten, sich in unserer Landessprache zu verständigen. N. ist ein sehr intelligenter aber schüchterner junger Mann, der mehr versteht als er zugibt. In den letzten Wochen unseres Zusammenlebens kamen zunehmend Unterhaltungen in deutscher Sprache zustande. Ich mache mir bei ihm wenig Gedanken, jedoch L. wird keine (halbwegs normal bezahlte) Arbeit antreten, sollte sich kein deutlicher Fortschritt einstellen.
Sprachliche /semantische Gründe führen oft zu Missverständnissen. Ich habe oft gehört „…ich will“. Es fühlte sich komische an. Bei genauerer Betrachtung wird mir klar, dass es eine klare Aussage einer Absicht ist, die man formulieren möchte, jedoch der sprachliche Zuckerguss deutscher Ausdrucksweise unbekannt ist.
Schule/Beruf
N. wurde u.a. mit finanzieller Unterstützung durch Spendengeldern technisch gut ausgestattet. Neben einem umfangreichen Equipment wie bspw. Notebook, Scanner, Internet, usw. benötigte er einen höhenverstellbaren Schreibtisch, da N. 1,95 m groß ist und ich das Gefühl hatte, dass er während des Aufenthaltes noch einmal ein paar Zentimeter gewachsen war. Auf jeden Fall beim Versuch, ihn zu gewissen Anlässen wie Auszug, Gratulationen zu umarmen, komme ich nicht über seine Brusthöhe hinaus. Wichtig ist, N. hat sein Abitur geschafft und darf sich nun entscheiden, ob er ein freiwilliges soziales Jahr, oder eine 1,5 Jahre andauernde Intensivsprachenschule antritt. Ein FSJ halte ich sehr gut für eine Orientierung, intensive Sprachenschule stellt ihn sehr gut für ein mögliches Studium auf. Ich habe ihm diese Ausbildung auch empfohlen, zumal er auch während dieser Zeit finanzielle Unterstützung erhält.
Behördliches
Der Umgang mit den Behörden ist eine spezielle Aufgabenstellung, für die man genügend Zeit und Energie einplanen sollte. Während der Betreuung durch das Sozialamt der Stadtverwaltung Andernach, fühlte ich mich als Unterstützer sehr gut aufgehoben. Man hat seit 2015 dazu gelernt, es gestaltete sich alles unkompliziert. Mit dem Übergang zur Agentur für Arbeit wurden die formalen Anforderungen höher. Auf Selbstständigkeit getrimmt, suchte L. und N. die Agentur auf, um die nötigen Prozesse in Gang zu setzen. Dieses Amt schien ein großes Misstrauen gegenüber Vermietern und ehrenamtlichen Helfern zu haben. Sollten Mitarbeiter dieser Organisation diese Zeilen lesen, seien Sie gewiss, Helfer rund um solche Projekte besitzen vollkommen ehrliche Absichten, die flankiert mit großer Nächstenliebe auch private Investitionen zur Folge haben.
Freizeitaktivitäten
Von Beginn an war uns die Wichtigkeit strukturierter Freizeitangebote sehr deutlich. Spaziergänge, Museumsbesuche, sportliche Aktivitäten helfen, kulturelle Barrieren zu überwinden. Zudem fördern sie Sprachkenntnisse und gegenseitiges Verständnis. L. und N. kamen verständlicherweise mit wenig Gepäck nach Deutschland. Sicher gehörten Wander- und Sportbekleidung nicht in die Packliste unmittelbar vor der Flucht. So beschafften wir L. eine kleine Auswahl preiswerter Outdoorkleidung. Schon während der ersten Woche fand die Kontaktaufnahme mit einer bereits seit zwei Wochen in Deutschland lebenden Familie statt. Gemeinsame Wanderungen standen seither auf dem Programm.
N. ist ein etwas introvertierter junger Mensch, der grundsätzlich größere Menschenansammlungen und lautstarke Veranstaltungen nur begrenzt erträgt. Er zeigte großes Interesse an zwei Kurzhanteln, die sich in meinem Wohnzimmer befanden. Sein Ehrgeiz, mit diesen wenigen Mitteln zu trainieren überzeugten mich, ihm eine preisgünstige Trainingsbank, eine Langhantel, zwei Kurzhantel und ein Gewicht-Set anzuschaffen. Seit zwei Monaten trainiert er nun mehrmals in der Woche nach einem Trainingsplan und ich bilde mir ein, die Erfolge bereits zu sehen. Wolfgang bemühte sich ebenfalls um N.. So nahm er ihn mit auf eine Berufsmesse und später lud er N. zu einem Konzert von Völkerball (Coverband Rammstein) ein.
Kulturelles/Rituale
Während der 3,5 Monate gemeinsam mit mir im Haus kam es kaum zu Gesprächen, bei denen es um das Leben in der alten Heimat geht. Ich erlebe die wenigen mir bekannten Ukrainer: innen als sehr zurückhaltend. Ich machte unzählige male darauf aufmerksam, dass ihnen alle Räume zur Verfügung stehen. L. und N. zogen sich am liebsten in ihr Zimmer zurück. Am meisten hat mir N. mit seinen 17 Jahren über rituelle Dinge aus der Ukraine vermittelt. In der Heimat lernt man nach Meinung von N. sehr früh, keinem Menschen zu vertrauen. Dies machte sich im Zusammenleben manchmal schmerzlich für mich bemerkbar. Während meiner Dienstreisen und meinem Urlaub in Island habe ich mein Haus und damit meine persönlichsten Bereiche geteilt und anvertraut. Ich hatte zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass dieses Vertrauen missbraucht wurde, jedoch hätte ich mich sehr gefreut, wenn dieses Gefühl nicht einseitig gewesen wäre. Gerade wenn es um Amtsgänge und die finanziellen Leistungen ging, wurden meine Argumente und Angaben „kritisch geprüft“. Ich verstehe die Angst dahinter, dass man in fremder Sprache keine Verträge machen möchte, von denen man die langfristigen Auswirkungen und Verpflichtungen nicht abschätzen kann. Jedoch habe ich unzählige male versucht zu erklären, dass es keinen Sinn macht, eine kostspielige Reise anzutreten, im Anschluss einen deutlichen vierstelligen Betrag aus dem Privatvermögen zu investieren, um sich am Ende an den Gästen, um ein paar Euro zu bereichern. Vertrauen wäre die bessere Lösung gewesen, trotzdem habe ich en gewisses Verständnis dafür entwickelt, wenn Menschen aus einem Land kommen, in dem Korruption und Lügen zum Tagesgeschäft gehören. Zwei Beispiele sollen das verdeutlichen. COVID wird von der ukrainischen Regierung weggelogen. Es wird nicht thematisiert und existiert demnach gar nicht. Trotz Krankenversicherung müssen ukrainische Bürger in die Tasche greifen, um einen Termin bei einem Arzt zu erhalten.
Zusammenfassung
Meine Gäste sind mir sehr ans Herz gewachsen, dennoch bin ich sehr froh, mein Leben für mich zu haben. Sicher waren L. und N. manchmal genervt von mir, weil ich einfach versucht habe, die notwendigen Regeln, Rituale und Gebräuche im Zusammenleben hier in Deutschland zu vermitteln. Auch die ständigen Hinweise und Bitten für eine selbstständige Lösung der Probleme sowie die zahlreichen Grafiken zur Erklärung des Sozialsystems waren ohne Frage nervig für L und N.. Sie haben aber zum Ziel geführt. Vor diesem Hintergrund würde es mich auch nicht wundern, wenn auch sie das neue Leben ohne mich schätzen.
Man benötigt Toleranz und Verständnis, wenn es darum geht, Vertrauen zu gewinnen. Ob und in welcher Intensität dies passieren wird, bleibt offen. Ein etwas bitterer Nachgeschmack bleibt auch zurück, weil die Gastfamilie, Behörden und auch andere Interessengruppen Misstrauen bei besten Absichten unterstellen. Der Verdacht, man würde sich an einer Art Kopf-Prämie für Flüchtlinge bereichern, ist nur ein Beispiel hierfür. Ich kann nachvollziehen, wenn Menschen nach solchen Erfahrungen keine Hilfsprojekte mehr starten wollen.
Eine Bereicherung waren nicht nur tolle Momente des Projektes. Dazu gehören auch Erkenntnisse über Menschen und Rituale anderer Kulturkreise, die man sich für sich selbst nicht wünscht. Mir wurde erneut deutlich, wie gut es uns in unserem Land geht. Wer einen wahren Eindruck von Entwurzelung erhalten möchte, der ist eingeladen, mit L., N. und mir bei einem Frühstück die Nachrichten anzuschauen, um zu sehen, wie es in der Heimatstadt aussieht.
Unterm Strich kann das Projekt als „erfolgreich abgeschlossen“ bezeichnet werden.
L. und N. …
- … wurden unversehrt nach Andernach gebracht,
- … haben alle administrativen Aufgaben erfüllt,
- … sind krankenversichert,
- … erhalten ALG 2,
- … besuchen eine Sprachenschule,
- … besitzen eine berufliche/schulische Perspektive,
- … verfügen über eigenen Wohnraum,
- … sind mit Landsleuten und deutschen Helfern vernetzt
- und mit am wichtigsten, sie sind vorbereitet, die bevorstehenden Aufgaben selbstständig zu lösen.
Sozialromantische Vorstellungen einer neuen großen Familie wurden nicht vollständig erfüllt. Ich habe großartige neue Menschen, aber auch neue Seiten mir bekannter Personen kennengelernt. Dafür, für Geld- und Sachspenden bedanke ich mich an dieser Stelle erneut.
Für das kommende Jahr plane ich ein neues Projekt. Es ist größer, komplexer und kostspieliger. Auch wenn man in dieser Angelegenheit nicht alle retten kann, es geht mal wieder darum, für wenige Menschen den Unterschied zu machen.
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