Rene Riedel
Der Silvesterabend begann entspannt und verlief zunächst wie geplant im Kreise meiner Familie und Freunde. Wie der Großteil aller Bundesbürger begaben wir uns gegen Mitternacht ins Freie, um auf das neue Jahr anzustoßen und das Feuerwerk zu genießen. Es begann. Die ersten Knallkörper waren zu hören und die Menschen lagen sich in den Armen. Ich fing unvermittelt an zu zittern, bekam Schweißausbrüche und kam mir vor, als wäre ich im Gefecht. Diese „Flashbacks“ sind Gefühle des intensiven Wiedererlebens von traumatischen Erlebnissen, in diesem Fall ausgelöst durch die Knallkörper der feiernden Menschen. Dieser Zustand hielt mehrere Stunden an und wurde irgendwann schwächer. In den folgenden Wochen habe ich kaum geschlafen und suchte den Arzt auf. Er verwies mich an einen Facharzt, der diagnostizierte eine Posttraumatisches Belastungssstörung (PTBS), was übersetzt eine verzögerte psychische Reaktion auf ein belastendes Ereignis bedeutet.
Ich bin 38 Jahre alt, habe eine 11- und eine 14- jährige Tochter und lebe getrennt. Ein Handwerksberuf und Ausbildungen zum IT-Systemelektroniker sowie Technischen Kommunikationselektroniker qualifizierten mich für den speziellen Fernmeldedienst der Bundeswehr. In meinen 18 Dienstjahren schaue ich auf mehr als 3 Jahre Auslandseinsatz im Kosovo, dem Kongo und Afghanistan. Mit meinen Kameraden war ich verantwortlich für das System zwischen Mikrofon und Radiosender. Mit diesem Auftrag bereiste unser Team mehr oder weniger gesicherten Gebiete. Heute weiß ich, dass zwei Einsätze in Afghanistan konkret für die PTBS verantwortlich sind.
2009 stand unser Camp für mehrere Stunden unter Beschuss. Erst Unterstützung aus der Luft garantierten uns einen Abzug aus dem Lager. 16 Kameraden erlebten dies nicht mehr, für sie kam jede Hilfe zu spät. Das zweite Ereignis fand 2011 statt. In der afghanischen Hauptstadt kam es zu zwei Selbstmordanschlägen. Einer fand in einem Supermarkt, in 200 Metern Entfernung statt. Die zweite Person sprengte sich unmittelbar vor dem Auto in die Luft, in dem ich mich befand und wartete. Das Medevac-Team konnte zunächst nicht zu uns vordringen, weil eine dritte Person das Einsatzfeld unter Beschuss nahm.
Nach meiner Diagnosestellung folgten zwischen 2015 und 2019 mehrmals pro Jahr stationäre Aufenthalte von vierwöchiger Dauer. Ambulante Behandlungen in den Zeitenräumen dazwischen sorgten dafür, dass jede Stufe der Regenerierung genommen wird. Während dieser Zeit entdeckte ich bedingt durch die Ergotherapie meine kreative Ader. Ich begann zu malen und zu fotografieren, verbindete irgendwann diese Techniken. Mein musikalisches Talent ergänzte diese Art Therapie und ich kann seit einigen Jahren einen Bachelor in Audio und Produktion vorweisen.
Trotz meiner Erkrankung, die ich vermutlich lebenslang mit mir herumtragen werde, habe ich eine Perspektive. Seit der Einführung des „Einsatzweiterverwendungsgesetzes“ werden auf die Anforderungen von PTBS-Getroffenen adäquat reagiert und die damit verbundene Schutzzeit für Soldaten bildet den angemessenen zeitlichen Rahmen für eine Genesung und die Rückkehr zu einem selbstbestimmten Leben in Sicherheit.
Ins Ausland muss ich nun nicht mehr. Genau wie Depressionen oder Angstzustände sieht man einem das PTBS nicht an. Erst wenn andere Feiern, beginnt für mich häufig der Kampf.