Selina Dahm
An seinem Kopfende lag eine Blechdose von Jochen Schweizer mit dem Titel „Für wahre Helden“. Neben seinem Kopf und auf der ganzen Decke verteilt lagen Glubschis und andere Stofftiere. In der kalten Hand hielt er das Foto seiner Familie. Justin lebt nicht mehr und liegt im gekühlten Abschiedsraum unter Neonlicht in seinem offenen Sarg. Seit seinem Tot vor einer Woche besuche ich meinen Bruder täglich in der Kapelle des Friedhofes. Ich habe keine Angst, ganz im Gegenteil, ich möchte bei Justin sein, mich um ihn kümmern und ihn am liebsten gar nicht gehen lassen.
Angefangen hatte alles in dem Jahr, in dem ich eingeschult wurde. Justin war zwei Jahre jünger als ich, also 4 Jahre, als er plötzlich nicht mehr von einer Untersuchung zurück kam. Nachdem man bei ihm einen Hirntumor entdeckt hatte, verbrachte er 9 Monate am Stück in der Kinderklinik in Mainz. Ich erinnere mich sehr genau an den ersten Besuch, bei dem ich mich erschreckte. Justin hatte keine Haare mehr und die große Narbe an seinem Kopf markierte die Stelle, an dem man vergeblich versucht hat den Tumor zu beseitigen. Er war blass und erschöpft, irgendwie leer. Als ältere Schwester habe ich sofort meinen Beschützerinstinkt bemerkt und da wir ein inniges liebevolles Verhältnis hatten, litt ich ebenfalls unter der Erkrankung meines geliebten Bruders. In den folgenden Monaten fand man inoperable Metastasen in seinem Spinalkanal und so zog der Krebs nicht nur in seinen Körper, sondern auch in unser Familienleben.
Zunächst besuchte Justin die Förderschule, was sich als ein Glücksfall herausstellte. Denn Justins pädagogosche Fachkraft kümmerte sich nicht nur mit einer Einzelförderung in der Schule um ihn, sondern sie sollte die ganze Familie in den nächsten Jahren auch bei allen Aktivitäten unterstützen. Rita ist seitdem irgendwie Teil der Familie und immer da, wenn man sie braucht. Ich weiß, sie ist im Hintergrund. Wie ein ständiger Begleiter, ein Engel.
Seit 2013 musste Justin einen Helm tragen, als sich erste Vorboten epileptischer Anfälle zeigten. 2017 war ich anwesend, als er seinen ersten zentralen Krampfanfall erlebte. Es war ein traumatisches Ereignis für mich und die ganze Familie. Infekte und Lungenentzündungen waren die Gründe, weshalb Justin in immer kürzeren Abständen stationär in die Klinik musste. Seine Muskulatur atrophierte irgendwann und er konnte nicht mehr in seinem Hochbett im ersten Stockwerk schlafen. Justin zog ins Wohnzimmer und die Eltern schlugen dort ebenfalls ihr Bett auf, um in seiner Nähe zu sein. Ein enger Raum, in dem sich ein Spezialbett, die Schlafstätte der Eltern und sämtliche Pflegehilfsmittel sowie medizinische Geräte befinden, wurde schnell zur Gewohnheit. Aus dem Wohnzimmer wurde ein Intensivzimmer mit Schrankwand. Das Familienleben änderte sich schleichend und rückte Justin in den Fokus.
Mein Bruder hatte keine Freunde mehr und ich wuchs noch enger mit ihm zusammen. Ich sah mich irgendwie in der Verantwortung, alles zusammenzuhalten und jeden zu unterstützen. Justin war bescheiden und mit Wenig zufrieden. Das größte Geschenk war für ihn Zeit, die man mit ihm verbrachte. So beschenkte ich ihn jeden Tag und mit voller Hingabe und Liebe. Am 08. Juni zeigte er wieder Anzeichen einer Lungenentzündung, seine Sauerstoffsättigung ging in den Keller. Er schaute mich an und sagte mir „Selina, ich bin schlimm krank“. Ich wusste sofort, dass etwas Schlimmes vor uns lag. Er wusste es auch. In den folgenden 24 Stunden verstärkte sich mein Gefühl und als mich mein Vater knapp 24 Stunden nach der stationären Aufnahme nach Hause bat, wurde der Alptraum war. Justin verstarb am 09. Juni um 21.45 Uhr.
In der Blechdose „Für wahre Helden“ befand sich ein Gutschein für eine Ballonfahrt. Wir konnten Justins großen Traum nicht mehr erfüllen. Ich weiß aber, dass er auf eine andere große Fahrt gegangen ist und auf uns hinabschaut, ohne Schmerzen und bei vollem Bewusstsein. Ich habe immer an Gott geglaubt, aber die Ereignisse der letzten Jahre kann ich irgendwie nicht mit unserer Religion in Verbindung bringen.
Alles bringt auch etwas Gutes mit sich. Justin hat uns alle geprägt und viel gelehrt. Ohne ihn wären wir heute nicht so, wie wir heute sind. Ich habe viele tolle Menschen kennengelernt. Unsere Familie ist zusammengerückt und wir haben gelernt, mit Entbehrungen umzugehen. Ich habe Vorbilder kennengelernt, die nur aus „Nächstenliebe“ handeln. Und ich habe einen wahren Helden kennengelernt. Ich möchte den Beruf der Erzieherin lernen und anderen Kindern ein Engel sein. Bis dahin werde ich auf dem Weg zum Schulbus täglich schnell an Justins Grab eilen, um ihm etwas Zeit zu schenken. Das war alles, was ihn glücklich machte. Justin, unser Held.
Bild und Text: Johannes Palm
Danke für die Teilnahme und das Vertrauen.