(Anja Niemann) Ich stand mit meiner Tochter Emily an der Railing des Kreuzfahrtschiffes, als wir in Hamburg am 28. Oktober ablegten. Es war ein neuer, aber seltsamer Moment. Ich habe mir eingebildet, ich könnte mit der bevorstehenden Weltreise einige Dinge zurücklassen, bzw. zumindest etwas Abstand zu ihnen gewinnen. Ich plante, Distanz zu meinem Unternehmen aufzubauen, das ich unmittelbar vor Reiseantritt verkaufte. Ich versuchte auch die Sorgen um meine Mutter und ihren krebskranken Ehemann zurückzulassen. Ich verabschiedete mich von ihm, weil uns eigentlich klar war, dass er jederzeit während unserer Abwesenheit versterben könnte. Aufgrund seiner schweren Erkrankung konnte er selbst diese Reise nicht antreten. Vor uns lagen aufregende Monate, in denen wir einige Kontinente bereisen sollten. Der Gefühlsmix aus Sorgen, Freude, Glück, Neugierde, Ängste, Abenteuer und Freiheitsdrang überwältigte mich und ich bemerkte, wie überfordert ich damit war.
Die Erfahrungen während der ersten zwei Wochen waren vollkommen neu. Man muss sich schon daran gewöhnen, dass sich alles auf 17 Quadratmeter abspielt und man ist erst nach zwei Wochen passend sozialisiert. „Dieses Schiff ist ein Dorf“ sagte der Kapitän zu mir, „warten Sie ab, wenn Sie die Reise beenden“. Er sollte recht behalten. Während meiner Reise kam es zu Todesfällen, Schlägereien, Trennungen. Der Beginn neuer Beziehungen gehörte genauso dazu wie ein tätlicher Angriff auf den den Kapitän.
Ein erster bleibender Eindruck entstand während des Landgangs in Puerto Madryn in Argentinien. Dort lebten so viele Pinguine, dass man sie hätte anfassen und streicheln können, zum greifen und bestaunen nah. Es war ein tolles Gefühl, diese zutraulichen Tiere außerhalb eines Zoos zu erleben. Zu meinem Erschrecken wurden Sie in den folgenden Tagen und Wochen von uns kaum mehr wahr genommen. Es folgten Robben, Wale, Kängurus, Affen, Koalas und Quokas. Man konsumierten einen Teil der Natur und es war wie in einem Discounter, in dem Plastikpinguine das Regal für etwas neues räumen mussten. Man schaffte Platz im Kopf für die nächsten bevorstehenden Superlativen der Reise.
An Bord wurde ich sehr häufig auf Emily angesprochen. Einige Reisende interessierte sehr, warum meine Tochter nicht der Schulpflicht nachkam. Es war vollkommen unproblematisch. Nachdem ich die Weltreise und die damit verbunden Absichten in der Schule ankündigte, bekam Emily problemlos die Freistellung vom Schulamt. Emily wird so viele neue Eindrücke und Erkenntnisse mit in die Schule bringen, dass dies nur eine Bereicherung für den Unterricht darstellen kann. Sie schrieb alles auf und erfasste akribisch, was sie unterwegs erlebte. Sie beschrieb, wie viele Rinder es in Chile gibt, erklärte Reiseziele, klebte Fotos und Broschüren in ihr Tagebuch. Auch vom Feuer in Australien kann sie berichten. Wir befanden uns ca. 50 km auf See, als wir mit einem unangenehmen Gefühl in den Atemwegen aufwachten. Die erste Angst, es könne auf dem Schiff brennen trieb uns an Deck und um uns herum verbreitete sich Panik. Kaum einer rechnete mit dieser Rauchentwicklung, die uns noch in dieser Entfernung einholen kann. Wie groß kann ein Feuer sein, dass wir uns auf hoher See im Rauchnebel befanden. Ich entwickelte ein Gefühl dafür, wie es ist, wenn das eigene Dorf brennt, aber man es nicht verlassen kann.
Der 20. Dezember 2019 war ein besonderer Tag. Es war der Tag, an dem wir die räumlich weiteste Distanz zu unserer Heimat hatten. Es war auch der Tag, an dem zuhause ein Rechtsstreit eskalierte und es war der Tag, an dem der Mann meiner Mutter in die Klinik kam und nur eine geringe Chance bestand, dass er sie wieder verlässt. Das Seltsamste am 20. Dezember aber war, dass dieser Tag gar nicht für mich existierte. Zu dieser Zeit befanden wir uns auf dem Seeweg von den Cook-Inseln nach Neuseeland. Durch den Übergang in eine andere Zeitzone sprang unser Kalender quasi direkt vom 19. Auf den 21. Dezember und der 20. at also niemals für uns existiert. Die Ereignisse in der Heimat jedoch waren real.
Besonders gefreut habe ich mich auf die Osterinseln. Da man für solche Exkursion nur wenige Stunden zur Verfügung hat, spielt das Wetter eine große Rolle. Leider herrschte an diesem Tag ein so hoher Wellengang, dass Emily aufgrund einer Gleichgewichtsunsicherheit nicht in der Lage war, den Tender zu betreten, der uns ans Festland bringen sollte. Natürlich war ich enttäuscht, die einmaligen monumentalen Statuen nicht sehen zu können und wir verblieben als einzige Gäste an Bord. Es passierte jedoch etwas viel wertvolleres in mir. Die Angst von Emily vor dem hohen Wellengang erinnerte mich an meine eigenen Angststörungen, die Grund für einen stationären Aufenthalt waren, unmittelbar bevor ich mit Emily schwanger wurde. Ich konnte mich quasi in Emily hineinversetzen und sie lesen wie ein Buch. Nachdem Sie geboren wurde, kümmerte ich mich sehr viel um mein Unternehmen, setzte andere Prioritäten und Emily war sehr viel bei Ihrer Oma. Man kann auch sagen, ich flüchtete oft, weil ich Angst hatte ihr nicht gewachsen zu sein, nicht stark genug und vor allem nicht gut genug. Seit den Osterinseln ist alles anders. Ich war für sie da und sie gab mir das Gefühl, gleichwertig für mich da zu sein. Wir gaben uns gegenseitig Sicherheit, ein Gefühl, was ich in dieser Form zuletzt dort hatte, wo ich bis zum Wechsel in den Westen lebte. Der Rock in der DDR, war sehr eng, aber unglaublich warm und man fühlte sich sicher. Seit dem Ereignis auf den Osterinseln, hatte ich das Gefühl meiner Tochter näher gekommen zu sein, als je zuvor. Ich respektierte Ihre Grenzen, nahm sie in den Arm und wir genossen den Tag auf Deck, schauten den Tendern zu, wie sie über die Wellen hüpften. Auch Sie hatte verstanden, dass es mir sehr schwer viel diesen Verzicht für Sie zu begehen. Das ist es was Eltern tun, sie verzichten, sie gehen andere Wege, für das Kind. Ich bin meiner Tochter, auch wegen diesem Ereignis, so nah wie nie zuvor gekommen. Die wichtigste Erkenntnis dieser Reise.
Ich habe viel gesehen aber am meisten gelernt. Ich habe Menschen kennen lernen dürfen, die sich mir anvertraut haben, die auf Ihrer eigenen Reise waren, die mich getragen haben, mit denen ich eine sehr intensive Zeit verbringen durfte.
Ich habe auf dieser Reise gelernt, dass ich mir vertrauen darf, dass ich gut so bin wie ich bin. Ich habe gelernt zu schätzen wie wichtig meine geliebten Menschen zu Hause sind, wie wichtig es ist, sein Kind kennenzulernen. Viele Menschen können oder wollen aus unterschiedlichsten Gründen eine solche Reise nicht antreten. Ein Mensch, der mir sehr viel bedeutet, wollte auf uns warten und hat es getan, gewartet und gekämpft. Für all das bin ich sehr dankbar.
Ich habe auch etwas Wertvolles verloren, den Respekt vor einem der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Ich bin so verletzt worden wie noch nie in meinem Leben. Auch das passiert, egal wo man ist. Aber es stärkt auch. Rache und Hass sind jedenfalls keine Lösung – nie! Diese Eigenschaften haben in meinem Leben keinen Platz, das weiß ich jetzt. Und auch keine Menschen die so handeln.
Diese Reise hat mir auch gezeigt das alles möglich ist, eben auch eine vergleichbare Reise, mit meiner schulpflichtigen Tochter noch einmal zu machen, diesmal aber nicht mit einem Schiff. Jeder kann das, man muss es nur wollen und darauf hin arbeiten. Und jeder sollte es tun, jetzt, wo du es noch kannst, denn wer weiss wie lange. Welt wir kommen wieder!
Ich bin noch nie so lange weg gewesen, hatte noch nie so lange „nichts zu tun“, habe noch nie so lange nicht mit meinen Freunden und Familie gesprochen und habe noch nie eine so intensive Zeit mit meiner Tochter verbracht. Jeder nimmt, egal wie weit er weg geht, alles immer mit. Die Liebe im Herzen, die Ängste und Sorgen, die Sehnsüchte und auch die Fehler und Dinge die man vielleicht bereut. Am langen Ende sind es wieder die banalen Dinge, die uns nach einer langen Reise glücklich machen. Es sind die Spaghetti mit Pesto, die wir auf dem Sofa essen, es ist die eigene Bettdecke und der typische Geräuschtonus der Umgebung.
Wir haben eine Weltreise gemacht. Auf einem Schiff. Ein Schiff ist ein Dorf. Die Welt ist ein Dorf, das man nicht immer funktioniert wie man es sich wünscht, und dass man nicht verlassen kann, wenn man es gerade möchte.
(Bild: J. Palm, Text: A. Niemann und J. Palm)
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