(Anonym) „In guten wie in schlechten Zeiten“. Mein Mann und ich waren nie besonders religiös, aber wir haben Versprechen ernst genommen und immer gehalten. Jetzt sind sie da, die schlechten Zeiten. Sie kamen schleichend, aber zu schnell. Viel zu schnell. Es begann mit leichten Gedächtnislücken, die wir auf familiäre Überlastung schoben. Heute, einige Jahre später, führe ich zwei Leben. Meins und das meines Mannes. Ich habe nie gelernt, den Tagesablauf, die Körperpflege und all das, was einen Menschen ausmacht, für zwei Menschen zu organisieren. Ich muss zugeben, dass mir das sehr schwer fällt, und wenn ich ehrlich zu mir bin, will ich mich mit dieser hoffnungslosen Situation nicht abfinden. Unsere drei Kinder leben alle weit weg, zwei davon im Ausland. Wir haben ihnen in ihrer Kindheit Wurzeln gegeben und später Flügel, mit denen sie ihrem Glück entgegenfliegen sollten. Aber es waren „Einwegflügel“, denn im Glück angekommen, haben sie Familien gegründet und Wurzeln geschlagen. Ich möchte meinen Kindern dieses Glück nicht vorenthalten, aber ich gebe zu, dass die aktuelle Situation nie auf meiner Liste stand und ich sie mir zurück wünsche, um mich zu unterstützen. Ich bin an der Grenze der Belastbarkeit angelangt. Unser Sozialsystem soll eines der besten der Welt […]
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(Ute Hedicke) In meiner Laufbahn war ich als Mehrkämpferin im Fünfkampf, im 100-Meter-Hürdenlauf und im Weitsprung aktiv. Einer meiner größten Erfolge war der Gewinn der Deutschen Juniorenmeisterschaft im Weitsprung in Berlin im Alter von nur 20 Jahren. Besonders stolz bin ich auf meine Bestleistung im Weitsprung von 6,48 m und den Stadionrekord, den ich am 5. Juli 1977 in Troisdorf aufstellte – ein Tag, der mir besonders in Erinnerung geblieben ist, weil es mein Geburtstag war. Für diese Leistung wurde ich in die Nationalmannschaft berufen und bestritt etliche Wettkämpfe im In- und Ausland sowie zwei Hallen-Europameisterschaften für Deutschland. Dabei habe ich Athletinnen kennengelernt, die schon einen hohen Bekanntheitsgrad hatten. Damals konnte man vom Sport nicht leben. Kleine Vereine waren finanziell nicht in der Lage, ihre Athleten und Athletinnen zu unterstützen. An mir interessiert waren Leverkusen, Dortmund und Mainz, entschieden habe ich mich für Mainz. Mit dem Geld, welches ich jeden Monat bekam, konnte ich bestenfalls die Kosten zur Ausübung des Sports decken. In den 70ern waren die Trainingsstätten nicht so fortschrittlich wie heute. Ich trainierte 5–6-mal die Woche, meistens im Stadion in Andernach, auf dem Krahnenberg, in der Halle in Mainz oder bei schlechtem Wetter unter der B9-Brücke in Namedy. […]
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Im Februar 2022 gründete ich gemeinsam mit meinen Freunden Hans Groh und Christoph Conrads (sowie eine Person, die nicht genannt werden möchte) die Initiative „Fluchthilfe 360“. Übergeordnete Ziele waren die Lieferung von medizinischen Spezialmaterial für 20-40 traumachirurgisch zu versorgende Soldaten aus den Kriegsgebieten an ein Krankenhaus in Kiew sowie die Aufnahme, der Transport, die Verbringung von Flüchtlingen. 360 meint damit 360°, d.h. Flüchtlinge werden von der ersten Kontaktaufnahme bis zur Integration in der Gesellschaft rundum unterstützt. Sozusagen „Integration Fast-Track“ (schneller Weg). In meinen Blogbeiträgen habe ich über die verschiedenen Maßnahmen und Phasen berichtet. Nach langer und sorgfältiger Planung ist unser Team am 11. April aufgebrochen, um unsere Mission zu erfüllen. Wir lieferten das medizinische Spezialmaterial mit Unterstützung des deutschen Konsulates an das „Krankenhaus #1“ nach Kiew, nahmen zwei Flüchtlinge in Medyka auf und ab dem 13. April nannten L. und N. mein Haus ihr vorläufig neues Zuhause. Da die nächsten Schritte bereits vor Antritt der Fahrt eingeleitet wurden, konnten die ersten formalen Maßnahmen (Anmeldung, Krankenversicherung,…) direkt umgesetzt werden. Es war schön zu sehen, dass wir unheimlich viel Unterstützung erhalten haben. Zum 01. Juli 2022 bezog L. und N. die neue Wohnung, die großzügigerweise von Pia und Uwe zur Verfügung gestellt […]
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Meine Gäste sind nun seit 10 Tagen in Deutschland. Zu den ersten Maßnahmen gehörte zu den bereits genannten die Erklärung des Sozial- und Solidaritätsprinzips. Ich bin der Auffassung, dass dies wenn überhaupt viel zu spät für Migranten angeboten wird. Es ist doch wichtig zu wissen, dass wir ein Umlagesystem für die Sozialversicherungen haben, woraus die Mittel für die Gäste finanziert werden. Viele Menschen haben vermutlich den Eindruck, dass Deutschland so reich und stark ist, dass alle Ausgaben aus Steuereinnahmen beglichen werden können. Ich finde es soll verdeutlicht werden, dass jeder arbeitende Bundesbürger so seinen Beitrag leistet. Auch die Wut vieler Deutscher muss nicht verstanden werden, aber die Nachvollziehbarkeit sollte vorhanden sein. Die Vermittlung unserer Systeme und Werte ist mindestens genauso wichtig wie das Erlernen unserer Sprache.In der kommenden Woche wir L. ein Vorstellungsgespräch in einer Fabrik haben. Sie nimmt jede Arbeit an und sie möchte so wenig wie möglich Unterstützung bekommen. Ihr ist bewusst, dass der Anteil der Unterstützung mit zunehmenden Verdienst geringer wird und auch irgendwann aufhört. N. wird seine Klausuren für das Abitur in der Ukraine sicher bestehen, denn er ist sicher ein hochintelligenter Kerl, was ein gewisses Lerngefälle beim Deutschunterricht in der Küche zur Folge hat. Keine […]
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Wir nutzten die lange Fahrt, um gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, sofern das in einem Neunsitzer möglich ist. Sprachlich halfen uns die zunächst spärlich erscheinenden Englischkenntnisse des siebzehnjährigen Jungen (N.). Die Mutter (L.) sprach lediglich ukrainisch und russisch. Wir hielten uns mit gegenseitigen Fragen über Angehörige, Kriegsszenarien oder politischen Äußerungen zurück. Nachdem wir den 13.04. ein paar Stunden geschlafen hatten, trafen wir uns bei mir zuhause in der Küche und aßen ein paar Kleinigkeiten. L. und N. berichteten von ihrer viertägigen Anreise von Charkiw nach Pschemysl, während wir erste Übersetzungstechniken mit dem Smartphone einstudierten. Putins Truppen wüteten besonders in der Heimatstadt Charkiw und L. beschloss, mit ihrem Sohn nach Deutschland zu flüchten. Sie verließen das zerbombte Mehrfamilienhaus, in dem sie ein kleines Zweizimmer-Apartment bewohnten. In die zwei Rücksäcke und eine Reisetasche packten sie eine sorgfältig gewählte Selektion von Kleidungsstücken, Hygieneartikel und Dokumentenordner. Ohne Blick auf die zurückgebliebene Ruine machten sich L. und N. auf den Weg. Ein überfüllter Zug führte durch einen Fluchtkorridor nach Lwiw. Die Reise dauerte knapp zwei Tage. Die Flüchtlinge schliefen im Zug an jeder Stelle, die es erlaubte, sich einigermaßen ungestört niederzulassen. L. benötigte noch zusätzliche Dokumente, die sie bei einer Freundin abholen wollten. So reisten beide über […]
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Der Ort „Pschemysl“ ist uns bereits auf dem Hinweg aufgefallen, weil sich nahe der Hauptstraße ein riesiges Einkaufszentrum befand, auf dessen Parkflächen man Zelte, Container sowie Reisebusse erkennen konnte. Es ist das Flüchtlingslager, in das wir von einem Volontär in Medyka geschickt wurden, um uns als Freiwillige zu registrieren, um dann anschließend in Medyka helfen zu können. Auf den ersten Blick wurde deutlich, dass sich viele Transportfahrzeuge im Kreisverkehr der Halle bewegten, um Flüchtlingskontingente aufzunehmen, um sie anschließend in Flüchtlingsaufnahmelager nach Italien, Frankreich oder Deutschland zu bringen. Wie waren uns sicher, am richtigen Ort zu sein. Das gesamte Areal war besser organisiert und nach einem definierten Prozess aufgebaut. Außerhalb des Gebäudes befanden sich Registierungszelte, Dusch- und Toilettencontainer. An der Front des Einkaufszentrums haben sich Helfer oder Organisationen positioniert, bei denen sich sowohl Flüchtlinge als auch Fahrer von Transportfahrzeugen mit Getränken, Nahrung, Gewürzen, usw. eindecken konnten. Immerhin haben auch die abholenden Personen vermutlich ähnlich wie wir weite Wegstrecken zurückgelegt.Das Gebäude besaß zwei Eingänge, die sich an den äußeren Ecken befanden. Beide Pforten waren durch Security besetzt und es durften nur Flüchtlinge sowie registrierte Helfer in das Gebäude. Immerhin handelte es sich um einen nach innen offenen monströsen Intimbereich von unzähligen Personen. […]
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Nachdem wir unser medizinisches Transportgut wie beschrieben abgegeben haben, suchten wir uns außerhalb von Warschau einen Platz, auf dem wir pausieren und etwas essen konnten. Wir waren schon leicht erschöpft, wobei die schwierigste Aufgabe noch vor uns lag. Um es kurz zu machen, man kann in einem Neunsitzer nicht schlafen. Auf jeden Fall gilt das für ungeübte Fernfahrer. Wir fuhren über Landstraßen bis Medyka. Die Qualität dieser Wege ist deutlich schlechter als die polnischen Autobahnen. Gegen Morgen kamen wir in Medyka an. Wir suchten uns eine Raststätte, um noch einmal zu essen und etwas Kaffee zu uns zu nehmen, dann fuhren wir noch ein paar Kilometer in Richtung Grenzübergang.Dort angekommen konnte man das Hilfslager aus der Ferne erkennen. Es glich auf dem ersten Blick einem Flohmarkt, mit vielen bunten Wimpeln und Fahnen auf und an den Zelten. Wir näherten uns der Zufahrtstraße und einem Kreisel. Ein Volontär deutete uns, irgendwo zu parken. Uns ist direkt ein langer Stadtverkehrsbus aufgefallen. Er trug große Schriftzüge mit dem Städtename „Paderborn“ auf den Seitenflächen. Später haben wir erfahren, dass Paderborn scheinbar eine Partnerstadt von „Pschemysl“ (ein Nachbarort) ist. Schön zu sehen, dass Partnerschaft nicht nur aus Hinweisschildern, gegenseitigen Besuchen und Feiern besteht. Nachdem wir […]
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Am 11. April war es dann so weit. Bis zum letzten Augenblick wurden Sachspenden geliefert, die wir natürlich noch aufgenommen haben. Nachdem das Auto beschriftet wurde und wir die Checkliste für die Abfahrt durchgegangen waren, setzten wir uns nach Warschau in Bewegung. Es lagen insgesamt mehr als 3000 km vor uns und wir haben geplant, ohne Übernachtung durchzufahren, bis wir wieder mit aufgenommenen Flüchtlingen zurück in Andernach sind. Die Stimmung war prima und die Vorbereitungen ordentlich abgeschlossen. Motiviert fuhren wir in Richtung Warschau. Da der genaue Übergabestandort zum Zeitpunkt der Abreise noch nicht feststand, hielt ich die Verbindung mit dem deutschen Konsulat in Warschau. Der sehr hilfsbereite Mitarbeiter im Amt vermittelte eine Spedition, die unsere Güter weitertransportieren würden. Durch die Empfehlung des Konsulats hatten wir Vertrauen und ein sehr gutes Gefühl. Nachts um 01.00 Uhr kamen wir nach knapp 1300 km in Warschau an. Wir standen vor der angegebenen Adresse und wunderten uns über diesen Ort. Es handelte sich um eine sehr lange und hohe Mauer, die ein größeres Areal ohne erkennbare Bebauung umfasste. In der Erwartung einer Lagerhalle, die man einer Spedition zuordnen konnte, umfuhren wir mehrmals das Areal. Vergebens. Wir riefen die genannte Ansprechpartnerin an, mit der ich […]
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Obwohl es sich bei dem Vorhaben um ein zunächst kleine Transportfahrt handelte, mussten bedingt durch die spezielle Situation vor Ort Vorbereitungen getroffen werden. Diese Initiative besaß alle Merkmale eines kleinen Projektes, weshalb wir eine entsprechende Vorgehensweise gewählt haben. In einem ersten Schritt haben wir Ziele benannt und daraus die wichtigsten Fragestellungen abgeleitet. Neben den klassischen Fragen der Fahrzeugbeschaffung, der Proviantliste, usw. kamen Fragen auf wie bspw.: • Welche Dokumente müssen von uns/von den Flüchtlingen vorbereitet werden? • Ist der Transport versichert? • Welchen Proviant müssen wir für Kleinkinder oder Babys einplanen? • Benötigen wir eine Reisetoilette für Flüchtlinge, die in den vergangenen Tagen/Wochen verdorbene oder schmutzige Nahrung aufgenommen haben? • Wie können wir sicherstellen, dass sich keine Waffen im Gepäck befinden? • Usw. Aus unzähligen Fragen haben wir Handlungsfelder abgeleitet und einzelne Maßnahmen aufgeführt, die erledigt werden müssen. Wir haben das Team etwas erweitert (Person möchte nicht genannt werden) und die Aufgaben so verteilt, dass jedes Mitglied seine Kompetenzen einbringen konnte. So konnten wir in 6 Handlungsfeldern 41 Aufgaben einsortieren. Neben regelmäßigen Treffen haben wir eine WhatsApp-Gruppe eingerichtet, die unsere Kommunikation sicherstellte. Man kann Social Media Kanäle verteufeln und kritisieren, für die Zusammenarbeit aus unterschiedlichen Standorten sind diese Instrumente essenziell. […]
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