Kim Schmitz
Es rüttelt an der großen Stahltür des Grundstücks. Meine 22-jährige Stute Chayenne trottet langsam zum Tor und zieht ein kleines Shetty-Pony mit dem Namen „Pony“ wie einen Staubsauger hinter sich her. Einen Moment später stoße ich Chayenne sanft zur Seite und erblicke eine Frau der Stadttaubenhilfe Koblenz, die mir eine verletzte Nilgans bringt. Inklusive einer Rabenkrähe und ein paar Tauben, war das bereits die fünfte „(Ein-) Lieferung“ an diesem Samstag. Zusammen mit der Lieferantin gehe ich in eine Voliere – ein großer Käfig mit Freiflugraum für Vögel – um die Verletzung zu begutachten. Kurze Zeit später versorge ich das durch Angelschnüre verzurrte Beinchen.
Ich bin 31 Jahre alt, glücklich verheiratet und wohne mit meinem Mann und unseren zwei Kindern (4 und 9) glücklich in einfachen Verhältnissen in einem ländlichen Stadtteilgebiet von Andernach. Wir leben dort seit Jahren mit allen Tieren zusammen. Zu dieser großen Familie gehören unter anderem, ein Pferd, ein Pony, Hunde, Katzen, vier Flaschenlämmer, Vögel aller Art, jedoch schwerpunktmäßig Tauben, die mir in allen Altersstufen gebracht werden. Ich habe eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten absolviert, aber früh gespürt, dass mein eigentliches Interesse woanders liegt. Meinen Mann kenne ich seit dem 13. Lebensjahr. Er arbeitet hart im Gütertransport und unterstützt mich genau wie meine Kinder bei meiner Arbeit.
Angefangen hat alles mit meiner Verbundenheit zu Tieren. Oft wurden sie uns einfach vor die Tür gestellt, weil man davon ausging, dass wir uns darum kümmern. Bis zum heutigen Tag habe ich noch kein Tier abgelehnt, weshalb ich es im Laufe der letzten Jahre mit sämtlichen Tierarten zu tun bekam und ich mir sehr gute Kenntnisse in der Veterinär-Versorgung verschaffen konnte. Es gibt bei Tieren diese Art Verletzungen, Erkrankungen oder manchmal nur schwierige Umstände, die von einem Tierarzt oder einem Tierheim nicht abgedeckt werden. Häufig werden sie dann aus Mangel an zeitlichen, finanziellen oder räumlichen Ressourcen eingeschläfert. In unserem Kreis ist bekannt, dass ich mich diesen Wesen verschrieben habe. Sie haben nichts mehr zu verlieren und werden von uns nach einem festgelegten Prozess stabilisiert, verbunden, wenn es sein muss geschient, auf jeden Fall aber mit Unterkunft, Futter und viel Liebe versorgt.
Der Umgang mit Tieren stellt für mich auch einen Spiegel der Gesellschaft dar. Beispielsweise wurde ich an einem Samstagabend von einer jungen Frau angerufen, die mir einen Hinweis gab, wonach sich ein Tauben-Küken am Rand der Rheinstrasse in Andernach befand. Ich erkundigte mich, ob sie das Tierchen zu uns bringen, zumindest es bis zu meinem Eintreffen schützen könne. Sie erwiderte, dass sie eine Verabredung hat und nun weitermuss. Dankbar über den Hinweis aber voller Wut über die unterlassene Hilfeleistung alarmierte ich meinen Mann und meine Kinder, um uns auf den Weg zu machen. Ein weiteres prominentes Beispiel sind Stadttauben. Es handelt sich hierbei um ein vom Menschen gemachtes Problem. Zuerst sollte sich diese Tierart vermehren, nun möchte man sie einfach aus den Städten vertreiben. Grund dafür ist u.a. der Dreck, den sie hinterlassen. Dieser Kot, wie man ihn in den Städten beobachten kann, ist vollkommen untypisch und kommt zustande, weil sich diese Tauben von Essenresten, Abfall oder manchmal auch menschlicher Kotze ernähren. Bei mir aufgenommen und erstversorgt lernen sie, sich artgerecht zu ernähren. Sie bebrüten Plastikeier, um die Population zu reduzieren.
Im Zeitraum von Februar bis September, werden täglich, verletzte und verweiste Wildtiere abgegeben. Darunter zählen Wildtauben, Rabenvögel und Eichhörnchen. Sie werden medizinisch versorgt, aufgezogen und dann in Auswilderungsvolieren auf ein Leben in Freiheit vorbereitet, erhalten nun also ihre zweite Chance. Nachdem sie sich noch Tage bis wenige Wochen bei uns aufgehalten haben, kommen sie wie pubertierende Kinder zum Schlafen in die Voliere, bevor sie uns dann irgendwann ganz verlassen. Der gesamte Prozess und gerade dieser letzte Schritt erfüllen mich mit Glück und Wärme.
Ich konnte mir in den vergangenen Jahren ein großes Netzwerk von Experten und ehrenamtlichen Helfern aufbauen. Zu den bekanntesten Institutionen gehören das Tierheim Koblenz, Andernach und die Stadttaubenhilfen Andernach, Koblenz, Boppard, Bonn, sowie die Wildtierpflegestation Koblenz. Behinderte Tauben bekomme ich von überall, z.b. von der tierärztlichen Hochschule Hannover, oder aus München. Tiere werden mehrere 100 Kilometer zu mir gebracht, was mich etwas mit Stolz erfüllt. In diesem Kalenderjahr (Januar bis September 2020) wurden bisher mehr als 230 Schützlinge abgegeben.
Die Bewirtschaftung des Betriebes ist kostspielig und ein großer Teil unseres monatlichen Privateinkommens wird hierfür verwendet. Sachspenden helfen uns häufig über die Runden. Allein für die Tauben, benötige ich alle drei Tage einen Sack Futter, der jeweils 17 Euro kostet. Meine ganze Familie kümmert sich darum und wir verzichten auf viele Dinge, die für andere Menschen zum Standard in der Comfort-Zone gehören. Urlaub kennen wir nicht und wir können uns auch nicht einfach mal für ein Wochenende aus dem Staub machen. Wir sind 24/7 erreichbar. Kommt ein neuer Schützling, ziehen mein Mann und mein großer Sohn mit dem Akkuschrauber los, um eine größere Voliere oder eine sonstige Spezialkonstruktion zu errichten. An den Abenden beantworte ich manchmal übermüdet Anfragen der Menschen, die uns Tiere gebracht haben.
Ich erinnere mich noch, als die Flaschenlämmer kamen. Sie waren frisch geboren. Ich konnte schlecht im Stall übernachten und die Lämmer haben sich alle zwei Stunden gemeldet. Also haben wir sie einfach mit in die Wohnung genommen und ihnen befristet einen Raum geschaffen. Wenn wir heute an einem Sommerabend auf der Wiese sitzen, zur Linken zwei große Hunde, zur Rechten zwei Schafe (die sich vermutlich in diesem Moment für einen Hund halten), dann merken wir, dass wir es richtig gemacht haben. Trotz der zahlreichen Entbehrungen für alle, möchte keiner von uns ein anderes Leben führen. Wir vermissen nichts. Gerne geben wir das, was wir entbehren können. Wenn Ihr wüsstet, was wir von den Tieren zurückbekommen, ist dies nicht mit irgendwelchen materiellen Dingen zu vergleichen. Wir sind davon überzeugt, dass wir auch unseren Kindern etwas mitgeben, was wichtiger ist als die Übergabe einer Immobilie. Es ist ein Wertesystem, das aus Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und Bescheidenheit besteht.
Spät abends, wenn alle Notfedern versorgt und alle Tierkinder gefüttert sind, klingt das für uns wie Applaus.
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